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Die Wacht am Jordan
Uri Avnery, 5.7. 2014
DIE ARABISCHE Welt ist im Aufruhr. Syrien und der
Irak brechen aus einander. Der tausend Jahre alte Konflikt zwischen
den muslimischen Sunniten und den muslimischen Schiiten erreicht
einen neuen Höhepunkt. Ein historisches Drama entwickelt sich um uns
herum.
Und wie reagiert unsere Regierung darauf?
Benjamin Netanjahu sagt es in knappen Worten.
„Wir müssen Israel am Jordan verteidigen, bevor sie Tel Aviv
erreichen.“
Einfach, präzise und idiotisch.
ISRAEL VERTEIDIGEN gegen wen? Gegen ISIS
natürlich.
ISIS ist der islamische Staat vom Irak und Sham
– eine neue Kraft in der arabischen Welt. Sham ist Groß-Syrien –
der traditionelle arabische Name für das Gebiet, das die
gegenwärtigen Länder Jordanien, Palästina und Israel umfasst.
Zusammen mit dem Irak formt es das, was Historiker den „Fruchtbaren
Halbmond“ nennen, die grüne Region rund um das nördliche Ende der
trostlosen arabischen Wüste.
Den größten Teil der Geschichte war der
fruchtbare Halbmond ein Land, Teil der auf einander folgenden
Reiche: der Assyrer, Babylonier , Perser, Griechen, Römer,
Byzantiner, Araber, Ottomanen und vieler anderer hielten sie
vereint, bis zwei ausländische Herren Sir Mark Sykes und M. Francois
Georges-Picot, sich daran machten, sie nach ihren eigenen imperialen
Interessen zu teilen. Dies geschah während des 1. Weltkrieges, der
nach einem Mord anfing, der letzte Woche vor 100 Jahren geschah.
Mit unglaublicher Missachtung gegenüber den
Völkern, ethnischen Ursprüngen und religiösen Identitäten schufen
Sykes und Picot Nationalstaaten, wo keine Nationen existieren. Sie
und ihre Nachfolger, insbesondere Gertrud Bell (???), T.E. Lawrence
und Winston Churchill taten drei ganz verschiedene Gemeinschaften
zusammen, schufen den „Irak“, indem sie einen ausländischen König
aus Mecca importierten.
„Syrien“ wurde für Frankreich bestimmt. Ein
kaiserlicher Kommissar nahm eine Landkarte, einen Stift und
zeichnete eine Grenze mitten durch die Wüste zwischen Damaskus und
Bagdad. Die Franzosen schnitten Syrien damals in verschiedene
kleine Staaten für die Sunniten, Alawiten, die Drusen, Maroniten
etc. Später schufen sie noch Groß-Libanon, wo sie ein System
schufen, das die maronitischen Christen über die verachteten
Schiiten setzten.
Die Kurden, eine wirkliche Nation, wurden in vier
Teile aufgeteilt, von denen jeder einem anderen Land angeschlossen
wurde. In Palästina wurde inmitten einer feindseligen arabischen
Bevölkerung eine zionistische „nationale Heimstätte“ geplant. Das
Land jenseits des Jordan wurde abgetrennt, um ein Fürstentum für
einen andern Emir von Mekka zu errichten.
Das ist die Welt, in der wir aufwuchsen und die
nun ins Wanken gerät
WAS ISIS jetzt zu tun versucht, ist einfach, all
diese Grenzen auszuwischen. In dem Prozess legen sie die alte
sunnitisch-schiitische Teilung bloß. Sie wollen ein vereinigtes
sunnitisch-muslimisches Kalifat.
Sie stehen gegen riesige unbeugsame Interessen
und werden wahrscheinlich versagen. Aber sie säen etwas, das viel
länger anhält: eine Idee, die sich in vielen Millionen Köpfen
festsetzen könnte. Es mag in 25, 50 oder hundert Jahren in
Erfüllung gehen. Es könnte die Welle der Zukunft sein.
Was sollten wir tun, nachdem wir sehen, wie sich
das Bild entwickelt?
Für mich ist die Antwort ganz klar: macht schnell
Frieden, solange die arabische Welt ist, wie sie jetzt ist.
„Frieden“ meint nicht nur Frieden mit dem
palästinensischen Volk, sondern mit der ganzen arabischen Welt. Die
Arabische Friedensinitiative- die sich auf die Initiative des
damaligen Saudi-Arabischen Kronprinzen gründete – liegt noch immer
auf dem Tisch. Sie bietet vollen und bedingungslosen Frieden mit
dem Staat Israel an im Gegenzug für das Ende der Besatzung und die
Schaffung eines unabhängigen Staates Palästina. Hamas stimmte
offiziell darin überein, vorausgesetzt es wird von einem
palästinensischen Volksentscheid ratifiziert.
Es wird nicht einfach sein. Eine Menge
Hindernisse müssen überwunden werden. Aber es ist möglich. Und es
wäre reiner Wahnsinn, wenn man dies nicht versucht.
JETZT!
DIE ANTWORT unserer Führung ist genau das
Gegenteil.
Die historischen Ereignisse und deren Hintergrund
interessiert sie, „ wie die Knoblauchschale“, wie man im Hebräischen
sagt – also überhaupt nicht.
Ihr ganzes Interesse ist auf die Bemühung
konzentriert, die Westbank zu halten, was heißt, die Errichtung
eines palästinensischen Staates zu verhindern, was heißt, Frieden zu
verhindern.
Der sicherste Weg, dies zu tun, ist das Jordantal
zu halten. Kein palästinensischer Unterhändler wird je mit dem
Verlust des Jordantales einverstanden sein – weder durch direkte
Annexion durch Israel noch durch eine „vorübergehende“ Stationierung
von israelischen Soldaten im Tal auf unbestimmte Zeit.
Dies würde nicht nur den Verlust von 25% der
Westbank bedeuten( die insgesamt 22% des historischen Palästina
darstellt) und sein fruchtbarster Teil, sondern auch das
Abgeschnittensein des zukünftigen palästinensischen Staates vom Rest
der Welt. Der Staat Palästina würde eine Enklave innerhalb Israels
werden, von allen Seiten von israelischem Gebiet umgeben. So wie
seinerzeit die südafrikanischen Bantustans.
Als Ehud Barak dies bei der Camp David-Konferenz
vorschlug, brachen die Verhandlungen ab. Die meisten Palästinenser
könnten mit der vorübergehenden Stationierung von UN oder
amerikanischen Soldaten dort einverstanden sein.
In der vergangenen Woche tauchte plötzlich die
Jordantal-Forderung wieder auf. Die Vorstellung war einfach. ISIS
stürmt von seiner syrisch-irakischen Basis nach Süden. Es will den
ganzen Irak überrennen. Von dort will es in Jordanien einfallen und
auf der andern Seite des Jordan erscheinen.
Netanjahu sagte:„Wenn sie dort nicht von der
permanenten israelischen Garnison aufgehalten werden, werden sie an
den Toren Tel Avivs erscheinen (nur dass Tel Aviv keine Tore hat).
Logisch? Selbstverständlich? Unvermeidlich?
Glatter Unsinn!
Falls ISIS in die Nähe käme so ist es eine
unbedeutende Militärkraft. Es hat keine Luftwaffe, Panzer oder
Artillerie. Der Iran und die US sind gegen es. Verglichen mit
ihnen ist sogar die irakische Armee noch eine starke Kraft. Als
nächstes ist auch die jordanische Armee weit entfernt von einem
Kinderspiel.
Falls außerdem ISIS in die Nähe käme und das
jordanische Königreich bedrohte, würde die israelische Armee nicht
am Jordanfluss warten. Sie würde von den Jordaniern aufgefordert
werden, zur Rettung zu kommen – wie es während des Schwarzen
Septembers 1970 geschah, als Golda Meir ( auf Befehl Henry
Kissingers) warnte, einer sich nähernden syrischen Armee-Kolonne
zuvorzukommen und in Israel einzufallen.Das war genug.
Allein die Idee, dass israelische Soldaten die
Schanzen im Jordantal besetzen, um Israel vor ISIS (oder anderen)
zu verteidigen, ist reine Idiotie. Sogar idiotischer als die
berühmte Bar Lev-Linie, die dafür gedacht war, die Ägypter entlang
des Suez-Kanals 1973 aufzuhalten. Sie fiel innerhalb Stunden. Doch
die Bar-Lev-„Linie“ – die an die sinnlose französische Maginot-Linie
und die sinnlose deutsche Siegfried-Linie des 2. Weltkrieges
erinnerte - war weit vom Zentrum Israels entfernt.
Die israelische Armee hat Raketen, Drohnen und
andere Waffen, die einen Feind auf seinem Weg lang, lang bevor er
den Jordan erreicht, anhalten kann. Die Masse der israelischen
Armee könnte sich innerhalb weniger Stunden von der Meeresküste zum
Fluss bewegen und ihn überqueren.
Die Art und Weise des Denkens zeigt, dass unsere
Politiker vom rechten Flügel – wie die meisten ihrer Überzeugung in
aller Welt scheinbar noch im 19. Jahrhundert leben, wie ich
vermute. Wenn ich weniger großzügig wäre, würde ich sogar
Mittelalter sagen. Sie könnten noch mit Pfeil und Bogen ausgerüstet
sein.
(Die ganze Art zu denken, erinnert mich irgendwie
an ein Militärlied des 19.Jahrhunderts: „Die Wacht am Rhein: Zum
Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein/ Wer will des Stromes Hüter
sein/ lieb Vaterland magst ruhig sein/fest steht und treu die Wacht
am Rhein./Der deutsche Jüngling, fromm und stark,/ beschützt die
deutsche Landesmark“.)
ZURÜCK ZUR Zukunft.
Die Kreuzfahrer errichteten ihr Königreich in
Palästina, als die arabische Welt zerrissen war. Ihr großer Gegner,
der Kurde Saladin (Salah al-Din al Ajubi) widmete Jahrzehnte, um die
arabische Welt rund herum zu einigen, bevor er sie bei der Schlacht
bei den Hörnern von Hittin bezwungen hatte.
Heute scheint die arabische Welt noch zerrissener
als jemals. Aber eine neue arabische Welt nimmt Gestalt an; seine
Konturen können schon schwach erkannt werden.
Unser Platz ist mitten in der neuen Realität,
nicht außerhalb zum Zuschauen.
Leider ist unsere Führung völlig unfähig, dies
zu sehen. Sie leben noch in der Welt von Sykes und Picot, einer Welt
ausländischer Potentaten (jetzt die Amerikaner). Für sie ist das
Chaos rund um uns - nun, nur ein Chaos. Der Gründer des modernen
Zionismus schrieb vor 118 Jahren, wir sollten in Palästina als
Pioniere der europäischen Kultur dienen und einen „Wall gegen die
asiatische Barbarei sein.“
Unsere Führer leben noch in dieser eingebildeten
Realität, anders formuliert: „ wie in einer Villa im Dschungel“
Was also tun, wenn die großen Raubtiere des
Dschungels sich uns nähern und brüllen? Natürlich höhere Mauern
bauen. Was sonst?
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert
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